Interview: Dagmar Röhrlich über das ungewöhnlichste Ökosystem der Welt in Lost City

Am Freitag, 22. April, ab 19 Uhr lädt der Ocean Summit ein, zur LeseMeer Duolesung „Wunderwesen im Meer“. Neben Till Hein („Crazy Horse“) wird Dagmar Röhrlich zu Gast sein. Dagmar Röhrlich ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin des Buchs „Tiefsee“. Im Interview verrät sie dem Ocean Summit unter anderem, warum sie in der Tiefsee insbesondere das Ökosystem „Lost City“, eine eigentlich lebensfeindliche Umgebung, begeistert.

Ocean Summit: Die dunkle Tiefsee steckt voller Mythen – Ihr Buch erzählt aber keine erfundenen Geschichten, sondern beschäftigt sich mit der wahrhaftigen Geschichte und echten Entdeckungen der Tiefseeforschung. Welche im Buch behandelte Beobachtung aus der Tiefsee hat Sie selbst am meisten fasziniert und warum?

Dagmar Röhrlich: Das ist die Entdeckung Lost City, mitten im Nordatlantik, auf halbem Weg zwischen Afrika und Nordamerika. In Gipfelnähe eines gewaltigen Unterwassermassivs mit dem geheimnisumwitterten Namen Atlantis erheben sich ein paar hundert Meter unter der Meeresoberfläche schneeweiße, hochhaushohe Kamine – eine Art Manhattan der Tiefsee. Der Name, den die Wissenschaftler ihr gegeben haben: Lost City. In dieser „Verlorenen Stadt“ existiert das wohl ungewöhnlichste Ökosystem der Erde: Denn anders als bei „normalen“ Unterwasserbergen ist das Atlantismassiv kein Vulkan, sondern dort haben tektonische Kräfte ein Stück Erdmantel aus mehreren Kilometern Tiefe an die Oberfläche gezerrt.

Dieses Erdmantelgestein so weit oben, da ist es nicht stabil, und so laufen in dem gewaltigen Berg chemische Reaktionen ab. Das Resultat sind Hydrothermalquellen, an denen 40 bis 90 Grad heißes Wasser aus dem Boden quillt. Und dieses Wasser ist so basisch wie Rohrreiniger – ein Rohrreiniger, der mit Methan, Schwefelwasserstoff, Wasserstoff und Kohlendioxid beladen ist. Trifft diese Mixtur auf das kalte Meerwasser, fallen Kalk und ein Magnesiummineral namens Brucit aus. Sie lassen die schneeweißen Türme ebenso wachsen wie die Kristallvorhänge, die die Felsen umhüllen.

„Das Leben in heißem Rohrreiniger ist ungeheuer kompliziert.“

Sie sprachen von einem Ökosystem. Findet sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung tatsächlich Leben?
Das Leben in heißem Rohrreiniger ist ungeheuer kompliziert: So brauchen alle Lebewesen Metalle wie Eisen oder Nickel, damit ihr Stoffwechsel funktioniert. In der Verlorenen Stadt jedoch gibt es sie nicht. Außerdem fehlt den Mikroorganismen das Kohlendioxid, mit dem sie sonst überall auf der Welt ihre Biomasse aufbauen können. Und so sah Lost City für die Forscher zunächst verlassen aus, eine Geisterstadt.

Doch bei näherem Hinsehen entdeckten sie in und an den Kaminen Kolonien von Mikroorganismen, die sich wie durchsichtiger Seetang im warmen Wasser wiegen. In den Hohlräumen und Spalten verstecken sich Schnecken, Flohkrebse, Ringel- und Fadenwürmer, Muschelkrebse und Muscheln. Allerdings haben sie höchstens die Größe eines Daumennagels, und außerdem sind sie durchsichtig – für das menschliche Auge also kaum erkennbar.

Wie kann dieses Leben an diesem Ort entstehen?
Die Lebensgrundlage dieses Ökosystems ist nicht die Sonne, sondern es sind die gewaltigen Mengen an Kohlenwasserstoffen, die durch die chemischen Reaktionen der Gesteine entstehen – und zwar rein anorganisch, wie in der chemischen Industrie. Zwischen den Lebewesen und Lost City besteht anscheinend so etwas wie eine Symbiose: Die „Stadt“ ernährt sie, und dafür bauen ihre Bewohner sie auf. Denn um den zarten „Mikrobentang“ wachsen Kalkkristalle, umwuchern die Mikroorganismen, sodass sie irgendwann als Fossilien im Inneren der Kamine enden.

„Vielleicht stand vor vielleicht vier Milliarden Jahren die Wiege des Lebens in einer Lost City.“


Frau Röhrlich, nehmen Sie an, Sie könnten morgen früh mal eben mit einem U-Boot abtauchen Richtung Tiefsee. Welchem Wesen würden Sie dort am liebsten begegnen und warum?
Da bleibe ich bei Lost City, denn in einem wichtigen Punkt ähnelt dieses Ökosystem wohl den Galapagos-Inseln: Die Tierarten, die in der weißen Stadt auf Atlantis leben, haben sich wahrscheinlich dort entwickelt. Zeit genug hatten sie: Dieses seltsamste aller Ökosysteme existiert seit mindestens 30 000 Jahren. Und noch etwas überlegen die Forscher: Vielleicht stand vor vielleicht vier Milliarden Jahren die Wiege des Lebens in einer Lost City.

Denn so schwer es modernen Lebewesen fällt, sich unter heutigen Umweltbedingungen an den „Rohrreiniger“ anzupassen – so einfach könnte es damals gewesen sein: Das Meerwasser damals enthielt alles, was heute an Metallen fehlt, im Überfluss – und durch die die organischen Verbindungen wäre jede Gesteinspore ein exzellenter Bioreaktor.

Sie arbeiten seit vielen Jahren als Wissenschaftsjournalistin. Was ist Ihrer Erfahrung nach das wichtigste journalistische Handwerkszeug, um wissenschaftliche Fakten verständlich und ansprechend zu vermitteln?
Also ich bin auf Naturwissenschaften spezialisiert, genauer auf Geologie, Geophysik, Meereswissenschaft und noch ein paar kleinere Felder. Über Quantenphysik oder Stringtheorie würde ich nicht berichten. Es sind faszinierende Gebiete – aber ich weiß viel zu wenig darüber.

Zu gutem Wissenschaftsjournalismus gehört eine solide wissenschaftliche Basis– bei mir sind das eben die Geowissenschaften. Neugier alleine genügt leider nicht. Man muss die Veröffentlichung, um die es geht, lesen können, wissen, worauf es ankommt, wo die Knackpunkte sind. Allerdings: Einer meiner Kollegen hat Theaterwissenschaften studiert – und sich in Medizinthemen eingearbeitet. Über Jahre hinweg! So ist er mit viel Engagement ein hervorragender Medizinjournalisten geworden. Er hat sich das Wissen erworben – und konnte so sehr gut werden.

Vielen Dank Dagmar Röhrlich!

Am 22.04.2022 liest Dagmar Röhrlich in der Duo-Lesung „Wunderwesen aus dem Meer“ aus ihrem Buch „Tiefsee“ vor. Wissenschaftsautor Till Hein ist ebenfalls zu Gast. Die Veranstaltung ist kostenlos. Weitere Infos findet Ihr hier >>>